Anna will leben - Vorwort von Annelies Münch


Annas Los ist es, in einer gefühllosen Umgebung aufzuwachsen, die von Kälte gepaart mit seelischer und körperlicher Gewalt geprägt ist. Eine Kindheit, die tiefe Wunden hinterlässt, die nicht heilen wollen. So beschliesst die erwachsene Frau, einen neuen Namen anzunehmen, Anna zu begraben und ihre verwundete Seele im Meer zu versenken, dort wo man auch die Titanic im eiskalten Wasser in der Tiefe ruhen lässt, um nicht an altes Leid zu rühren. Doch eine neue Identität vermag das alte Ich nicht zum Schweigen zu bringen. Es steigt aus der schwarzen Tiefe herauf und setzt sich im Kopf der erwachsenen Frau fest und beginnt zu sprechen. Aus dem Reden wird Schreiben, muss Schreiben werden, denn nur so erhält Anna zum ersten Mal eine Stimme. Nie hat bisher jemand auf sie gehört, auch nicht als ihre Hüfte durch eine Krankheit schweren Schaden nimmt, was letztlich zu einer mehrmonatigen Bettlägrigkeit und einer noch lange Zeit spürbare Behinderung führt. Doch dies stachelt vor allem den Vater von Anna nur dazu an, sie weiter zu schlagen und mit schwerer Arbeit zu quälen. Eine schwedische Tante von Anna bringt das Unverständliche später bei einem Besuch auf den Punkt: Für die Eltern von Anna und ihren Geschwistern sind die Kinder nur als billige Arbeitskräfte auf dem Hof gezeugt worden. Sie sind keine Individuen und haben kein Recht auf einen eigenen Willen oder persönliche Wünsche. Ihr Schicksal ist einzig mit dem schwierigen wirtschaftlichen Überleben auf dem Bauernhof verknüpft, das steht über allem.

 

Indem Anna krank wird, stört sie dieses Selbstverständnis und wird dafür bestraft – immer und immer wieder. Nur die Trennung von Eltern und Hof, die genauso lieblos verläuft wie alles in Annas Kindheit, bringt schliesslich einen Einschnitt. Die Sprachlosigkeit der Eltern beim Abschied zeigt das ganze Unverständnis gegenüber dem Bedürfnis eines Kindes, sich selbst zu sein, gross und stark zu werden. Anna verdient unsere Bewunderung. Als sensibles und verwundbares Kind hat sie sich nie aufgegeben, und es ist ein grossartiger Moment, als sie allen Demütigungen und Widerständen zum Trotz feststellt: „Anna will leben.“

 

Das vorliegende Buch ist keine Biografie im traditionellen Sinne, in der ein Leben für das Publikum in Form gegossen werden will. Es ist vielmehr ein Protokoll, (eine) über die Kindheit (dauernde Aufzeichnung,) das erst in der Erinnerung Gestalt annehmen konnte. Das lapidare Aufzählen und Berichten einzelner Erlebnisse dieser Jugend, die auch nach Jahren noch bis ins kleineste Detail präsent sind, macht seine Stärke aus. Hier ist kein Gestaltungswille am Werk, der ein für sich vorteilhaftes Bild zeichnen will. Hier bricht sich ein übermächtiger Bewusstseinsstrom Bahn, der über lange Zeit verdrängt und zurückgehalten wurde. Das macht die Stärke dieses Buches aus, in dem auch immer wieder die Nähe zum angestammten Dialekt die Unmittelbarkeit des Gesagten betont.

 

Annas Bericht – man ist versucht von einer Erzählung zu sprechen, was aber am Kern der Sache vorbeiginge – erschüttert. Man glaubte, das düstere Kapitel der Missachtung von Kindern und ihrer Rechte im 20. Jahrhundert lasse sich auf die Gruppen beschränken, die unter dem Namen „Verdingkinder“ oder „Kinder der Landstrasse“ publik sind. Und nachdem sich die dafür zuständige, staatlich subventionierte Pro Juventute nach langem Widerstand Asche aufs Haupt streute, war man bereit, zur Tagesordnung überzugehen. Die Vorstellung, dass in der heilen Schweiz, die Kinder glücklich aufwachsen, schien nach dem Versprechen von Entschädigungszahlungen wiederhergestellt.

 

Das Buch von Anna zeigt, dass die systematische Missachtung des Wohlergehens und der Rechte von Kindern über die „Verdingkinder“ hinaus geht. Geschützt wurde diese durch ein Konzept, das der Familie eine uneingeschränkte und durch nichts zu kontrollierende Verantwortung zugestand. Was am Bericht von Anna denn auch am meisten frappiert, ist das systematische Wegsehen. Anna wiederholt ununterbrochen, dass sie nicht versteht, warum niemand eingreife und weshalb alle Erwachsenen die Familie gewähren lassen, obwohl sie den Missbrauch der Kinder durchaus wahrnehmen. Und das ist letztlich die stärkste Botschaft dieses Buches: Wegsehen ist fatal für Kinder, die auf die Unterstützung der Erwachsenenwelt angewiesen sind, um sich entwickeln zu können.

 

Daran ändern auch die hehren Ziele der UN-Kinderrechtskonvention nichts, welche die Schweiz nur mit Vorbehalten unterschrieben hat. Das sollten sich auch Organisationen, die sich die Förderung des Kindeswohls zum Ziele setzen, hinter die Ohren schreiben.

 

Februar 2018

Annelies Münch

 

Kinderlobby Schweiz